Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Zeitzer Kinderwagen ZeKiWa
Patricia Serve
Studentin

Ich bin unterwegs in Zeitz. Zu DDR-Zeiten war die Stadt in Sachsen-Anhalt Sitz zahlreicher Industriezweige. Unter anderem beherbergte sie den größten Kinderwagenproduzenten Europas. 450.000 Kinderwagen exportierte die Firma ZeKiWa in die Sowjetunion, aber auch an den Westen. Heute findet man nur noch wenige Spuren der ehemals florierenden Kinderwagenindustrie im Stadtbild. Ich besuche die Kinderwagenausstellung im Schloss Moritzburg, um mehr über den Einfluss der Fabrik auf Zeitz herauszufinden. Auf dem Weg dahin laufe ich zufällig am ehemaligen ZeKiWa-Werk vorbei. Ich erkenne es nur, weil eine Sanierungstafel darauf hinweist. Von den zwei noch stehenden Fabrikgebäuden ist eines in Planen gepackt, die Sanierungsarbeiten sind im vollen Gange. Bei dem anderen Gebäude wachsen Pflanzen aus den zerschlagenen Fenstern. Löcher klaffen im Dach, Graffitos zieren die hohen Backsteinwände. Auf der Tafel lese ich, dass hier in Zukunft das Stadtarchiv einziehen soll. 

Das Museum ist in der Moritzburg, mitten im Kern von Zeitz, keine 200 Meter von dem alten ZeKiWa-Werk entfernt. Die Ausstellung bereitet die Geschichte und Produktion von Kinder- und Puppenwagen visuell auf. Hinter Glaswänden kann man unterschiedlichste Modelle der Marke ZeKiWa betrachten. Je mehr Wagen ich sehe, desto sicherer bin ich, dass meine Oma mir als Kind einen ZeKiWa-Kinderwagen zum Puppenspielen gegeben hat. Also zeige ich der Rezeptionistin ein Bild von dem Wagen meiner Oma und frage, ob dieser ein ZeKiWa-Original ist. Das kann sie mir nicht beantworten, doch wir kommen ins Gespräch. Sie ist Ur-Zeitzerin, hat früher selbst für ZeKiWa in der Fabrik am Band gearbeitet. Nach der Wende musste sie umschulen. Inzwischen ist sie Rentnerin und arbeitet auf Minijobbasis im Museum und gibt Führungen durch die geschichtsträchtigen Straßen der „süßen“ Stadt. Süß deshalb, weil Zeitz nur noch die Zuckerindustrie und der Knusperflockenhersteller Zetti geblieben sind. Ihre Heimat liegt ihr am Herzen, das merkt man schnell. Auch ihre Kinder haben Zeitz hinter sich gelassen. Sie versteht das, schließlich sei es schwer, hier eine Perspektive zu finden. In ihren Worten schwingt neben der Begeisterung ein leicht trauriger Unterton mit. „Bleiben sie neugierig“, beendet sie unser Gespräch. 

Und das mache ich. Einige Tage später spreche ich mit Patrick Halka von der Sachsen-Anhaltinischen Landesentwicklungsgesellschaft. Er ist Teil des Zeitzer Projektbüros „Stadt der Zukunft“, das den Strukturwandel der Region analysiert und verschiedenste Projekte in Zusammenarbeit mit der Stadt plant und umsetzt. Mich interessiert, ob Zeitz als stellvertretend für die Stadt- und Industrieentwicklung im Osten bezeichnet werden kann. „Definitiv, das unterschreibe ich voll und ganz“, sagt Halka. Allerdings sei es nicht mehr so einfach, von Ost und West und den unterschiedlichen Entwicklungen in beiden Teilen des Landes zu sprechen. „Man kann nicht mehr pauschal sagen: Ost Abwärtstrend, West prosperierende Landschaft“, erklärt Halka. Er nennt das Gebiet um Wuppertal als Beispiel für eine Region, die ähnliche Prozesse wie viele Oststädte durchlaufen hat: Niedergang der Industrie, Abwanderung der Bewohner und Verlust des eigenen Selbstverständnisses. Statt der „Ost- und Westentwicklung“, spräche man heute von einer Teilraumentwicklung. Gebiete um Berlin und Potsdam haben sich in den letzten Jahrzehnten beispielsweise wirtschaftlich und demografisch sehr gut entwickelt, aber es gibt noch immer viele Regionen, Zeitz eingeschlossen, die den Einwohnerschwund nach der Wende nicht ausgleichen konnten. Zeitz sei in vielerlei Hinsicht ein typischer Postwende-Ostvertreter, wenn auch ein extremer.

Patrick Halka beschreibt drei Schockphasen, die Zeitz über die Jahre durchlebt hat. Da wäre zuerst einmal die Wende, zweitens die darauffolgende spürbare demografische und wirtschaftliche Entwicklung und zuletzt der Ausstieg aus der Braunkohle. Kurz gesagt, fielen seit der Wende Braunkohle-, Kinderwagen-, Kosmetikindustrie und der Maschinenbau weg. Und somit auch Tausende von Arbeitsplätzen. Das führte zu Brüchen in Biografien, Familien hatten kein Auskommen, weil das Einkommen fehlte. Das alles beeinflusse die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung. Inzwischen habe sich eine skeptische und pessimistische Grundeinstellung im Stadtbild entwickelt. Diese aufzubrechen, könne sehr schwierig sein. Es sei nicht unmöglich, aber dafür müsse man die Bevölkerung mitnehmen und abholen, damit sich Zeitz selbst wiederfinden könne, sagt Halka. 

Für die Zukunft erhoffe er sich, dass Zeitz wieder ein positiveres Selbstverständnis entwickelt. Dafür sei es wichtig, sich der eigenen Stärken und Schwächen bewusst zu sein. Durch Öffentlichkeitsarbeit müsse kommuniziert werden, was mit der Stadt passiert sei und was das mit der Bevölkerung gemacht habe. Man solle dabei allerdings nichts schwarzmalen. „Das ist auch nicht Sinn und Zweck der Sache. Das ist nur die Faktenlage und der muss man sich natürlich erstmal stellen. Ich brauche hier nichts schönreden, was nicht schönzureden ist“, erklärt er.
Hinter dem ersten Eindruck der Tristesse findet man viele Initiativen von Privatleuten und der Stadt, wie beispielsweise das Kloster Posa, das Kulturarbeit leistet. Und das ist nicht der einzige Trumpf, den Zeitz in der Hand hat. Da wäre die Nähe zu Leipzig, die gründerzeitliche Architektur der Stadt, die Weiße Elster und ihre malerische Umgebung. Halka sagt, das gäbe Mut und Zuversicht für die Zukunft der Stadt. Wichtig sei, Neues auszuprobieren. Die Verwaltung müsse bürgernah agieren, sich neuen Perspektiven öffnen und sich von alten Schemata lösen. Er spricht davon, dass bereits das gesamte Bundesland auf Zeitz blicke. Die Prominenz der Stadt sei da, sie müsse nur genutzt werden. Laut Halka sollte man sich an etwas Vertrautem orientieren. Potenzial habe beispielsweise das Image als Energieregion. Früher war die Region bekannt für die nahegelegenen Braunkohleabbaugebiete, die zur Energieversorgung der Stadt dienten. In der Zukunft könne statt Kohle Wasserstoff die neue Hauptenergiequelle werden. Dabei setzt Halka große Hoffnungen in den Industriepark Zeitz. Dort entsteht gerade eine Elektrolyseanlage, in der grüner Wasserstoff erzeugt und genutzt werden soll. Das deckt sich mit den Bemühungen des Bundeslands, das laut Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH bis 2040 eine grüne Wasserstoffwirtschaft anstrebt.

An Ideen scheitert es also nicht. Auf meinem Rückweg zum Bahnhof stechen mir auf jeder Straße leerstehende Häuser ins Auge. Viele von ihnen wunderschön, wenn man sie sanieren würde. Ich verlasse die Stadt mit gemischten Gefühlen. Man kann nicht übersehen, dass viele Menschen die Stadt verlassen haben. Und doch hat diese kleine Stadt historisch und architektonisch so viel zu bieten, dass ich sie mit Hoffnung verlasse. Ich hoffe, dass sich die Zeitzer:innen ihrer Potenziale bewusst werden. Und, dass in Zukunft auch wieder neue Bewohner:innen ihren Platz in der Stadt finden. 

 

Foto (c): Patricia Serve

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