Zeichen einer anderen Zeit
Ostdeutsche Identität in der Nachwendegeneration
Thea Marie Klinger
Fotografin & Journalistin

Ich erinnere mich – wahrscheinlich bin ich ungefähr neun Jahre alt. Ich sitze im Auto neben meiner Mutter. Wir stehen an der roten Ampel irgendwo kurz vor Dresden, meiner Geburtsstadt. Der Blick aus dem Fenster ist vertraut. Meine Mutter schaut links, es ist frei, dann biegt sie rechts ab. „Der grüne Pfeil“, erzählt sie „das ist eins der wenigen Dinge, die nach der Wende übriggeblieben sind. Die meisten Sachen aus der DDR haben sie plattgemacht“. Plattgemacht? Ich wundere mich, verstehe nicht wirklich, wovon sie spricht. In ihrer Stimme liegt eine Empörung, die mir fremd ist.

Als 1997 geborene gehöre ich zur Nachwendegeneration. Von der Wende selbst habe ich nichts mitbekommen. In der Familie sprachen wir nicht viel von der DDR – ab und zu fielen Schlagworte wie „Westpäckl“ oder ich erfuhr nebenbei, wer im Bekanntenkreis wann versucht hatte „rüberzumachen“. Geschichten, die meine Eltern aus ihrer Jugend erzählten, wurden nur selten damit in Verbindung gebracht, dass sie sich in einem Land abgespielt hatten, das es heute nicht mehr gibt. So war es lange nur der grüne Pfeil, der für mich als Überrest dieser Zeit existierte.

Plötzlich ostdeutsch

Erst viele Jahre später begann ich, die Zusammenhänge und die Empörung in der Stimme meiner Mutter besser zu verstehen – so wie viele Ostdeutsche aus meiner Generation. Dass ich aus Sachsen komme, fing für mich erst dann an eine Rolle zu spielen, als ich zum Studium nach Hannover zog. Es waren kleine Bemerkungen und Reaktionen, gespickt von Vorurteilen, die folgten, wenn zur Sprache kam, dass ich aus Dresden bin. In der Wiederholung bohrten sie sich in mein Bewusstsein, wie ein Stachel, der im Fuß steckt und nur schmerzhaft wieder herausgezogen werden kann.

Obwohl ich nicht sehr sächsisch spreche, wurde ich auf meine Aussprache aufmerksam gemacht. Ich erzähle vom Surfen: mein Gegenüber findet mein weiches S aber spannender. Ich sage, dass ich aus Dresden komme: „Aus TRESDEN?“, lacht mir entgegen. Dazu muss ich ständig zu Pegida Stellung nehmen oder auf Kommentare reagieren, die von einem sehr einseitigen Bild von Sachsen und von ganz Ostdeutschland zeugen. Am Anfang wusste ich nie so richtig, wie ich darauf reagieren soll. Nicht mehr sagen, dass ich aus Dresden bin? Mich und meine Leute verteidigen? Peinlich war es mir. Mich für Pegida und die rechten Idiot*innen, die in meiner Stadt so laut sind, zu schämen, erschien mir angemessen. Vieles andere nicht.

Zwischen Scham und Ossi-Pride

Ich erinnere mich – an das erste Mal, dass ich mich für mein Ostdeutsch-Sein geschämt habe: Auf einem Schulaustausch in der Oberstufe. Wir fuhren nach Remscheid bei Köln.

Im Gegensatz zu mir legten die Jungs aus meinem Jahrgang bereits sehr viel Wert auf ihre ostdeutsche Identität. Sie witzelten über die große Auswahl in den Supermärkten (à la: „Bei uns im Osten gibt’s sowas nicht!“), abends stieg mit dem Alkoholpegel auch die Lautstärke der Ost-Parolen. Hauptsache von „den Wessis“ abgrenzen, schien der unausgesprochene Konsens zu sein. Allen wurde die geschwellte Ossi-Brust präsentiert, von der ich bis dato nicht einmal wusste, dass sie existiert.

Wo kam dieser Ossi-Pride auf einmal her? Kannten sie vielleicht noch andere Geschichten außer dem grünen Pfeil? Fühlten auch sie sich, wie so viele Ostdeutsche, als „Bürger*innen zweiter Klasse“? Gaben ihre Eltern ihr Wissen über die auch heute noch deutlichen Ungleichheiten hinsichtlich Gehalt und Repräsentanz von Ostdeutschen an sie weiter? Denn darin unterscheiden sie und ich uns von der westdeutschen Nachwendegeneration. Für diese spielt die Westsozialisation ihrer Eltern kaum mehr eine Rolle. Wir aber kennen Geschichten aus der Familie, die von Arbeitslosigkeit, Brüchen und Herabstufungen erzählen.

Bei mir löste dieser nach außen getragene Ossi-Pride aber vor allem ein Bedürfnis aus, meine ostdeutsche Herkunft zu verstecken. Ich wollte kein Thema daraus machen. Ein Gefühl, das viele Ostdeutsche aus der Zeit nach der Wende kennen. Wer da nicht auffiel, hatte es leichter in der neuen westdeutschen Gesellschaft integriert und anerkannt zu werden. „Die westdeutsche Karte spielen“ sozusagen, wie die Autorin und Ostdeutschlad-Expertin Jana Hensel es beschreibt. Für sie sei die Fähigkeit, diese Karte spielen zu können, ein wichtiger Erfolgsfaktor gewesen.

Auch ich habe in meiner Zeit in Hannover gelernt, diese Karte zu spielen. Ich habe aber keine Lust mehr darauf. Warum bekomme ich ständig Klischees zu hören, sobald es darum geht, dass ich aus Dresden komme? Ich möchte mich nicht mehr verstecken. Aus der Scham ist inzwischen eine Wut geworden, die ich zeigen kann. Zum Beispiel auf einer Party, auf der ich mich laut über die Uhrzeit wundere: „Schon dreiviertel zwölf!“. „Wir sind hier nicht im Osten!“, wird mir aus irgendeiner Ecke entgegengeschleudert. Mein eigene Ossi-Pride meldet sich zu Wort, aus dem Bauch heraus pöbele ich zurück: „Halts Maul, ich kann das sagen, wo ich will“. Außerdem: nicht nur im „Osten“ sagen die Menschen dreiviertel und viertel – auch in Badem-Württemberg und in Teilen Österreichs.

Keine vereinfachte Erzählung mehr

Die Vorurteile und negativen Assoziationen mit Sachsen und Ostdeutschland, die mir in Hannover begegnet sind, sehe ich inzwischen in einem größeren gesellschaftlichen Kontext. In ihnen zeigt sich, dass Ostdeutschland vor allem medial lange als „Projektionsfläche für unliebsame Eigenschaften [genutzt wurde], die man vom richtigen Deutschland, also Westdeutschland, wegschieben konnte“, wie die Soziologin und Literaturwissenschaftlerin Katharina Warda es beschreibt. Vor allem in Bezug auf Rassismus und Rechtsextremismus sei dies insofern problematisch, weil diese dann nicht als Problem anerkannt und bekämpft – sondern immer hin- und hergeworfen werden. Damit hat die mediale Berichterstattung dazu beigetragen, dass Vorurteile und Stereotype über Ostdeutschland in vielen Köpfen weiterhin präsent sind. Vielleicht sind es unter anderem diese Stereotype, gepaart mit dem Wissen über Ungleichheiten, die uns als junge ostdeutsche Generation zusammenschweißen und laut werden lassen.

Wir wollen Probleme benennen dürfen, ohne dass diese als „typisch ostdeutsch“ abgestempelt werden. Wir wollen komplexe Sachverhalte komplex sein lassen und Ambivalenzen aushalten – das wünsche ich mir als Teil dieser ostdeutschen Nachwendegenration. Und natürlich: mehr Ostdeutsche in die Führungsetagen und gleiche Bezahlung!

 

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