Möchte man einen gänzlich unbekannten Ort überblicken, beginnt man sein Vorhaben idealerweise am erhabensten Punkt. Führt der Weg dorthin einmal mitten durch die Stadt und entpuppt sich am Ende als altes Kloster, ist zwar die oberste Schicht einer Terra incognita abgetragen, doch eine Fülle an Fragen werden aufgewirbelt. Und wo könnten Fragen besser als in einer Schule beantwortet werden?
Graue Schleier auf der Vedute
Das Kloster Posa liegt geographisch am süd-westlichen Zipfel der Stadt auf einer Anhöhe inmitten der Elsterauen. Von Weinreben gerahmt, erstrecken sich sieben Gebäudekomplexe und ein großer Garten in die Landschaft, die in ihrer Wuchtigkeit und Weitläufigkeit einem Trompe-l‘oeil in einem auenländisch anmutenden Landschaftspanorama gleichen.
Auf meinem Weg dorthin muss ich also eine kleine Wanderung in Kauf nehmen; ich komme am Sportverein vorbei, dem Herzstück verschlafener Örtchen. Dort muss ich direkt ein Hindernis überwinden, so fühlt es sich zumindest an, denn die Treppenstufen zur Brücke, die über die idyllische Weiße Elster führt, sind nicht ohne Mühe zu überqueren. Drei Männer sitzen dort und machen zunächst keine Anstalten aufzustehen, als ich auf sie zulaufe. Erst unmittelbar vor ihnen angekommen, machen sie einen Spalt breit Platz. Ich presse ein leises „Danke“ heraus, laut, fast schon demonstrativ, erhalte ich ein „BITTE“ zur Antwort. Hallo Zeitz.
Gottes Werk und Teufels Beitrag
Nicht nur geographisch ist das Kloster nicht ganz an die Stadt angeschlossen. Als Glaubensstätte ist dem Gebäude seit jeher eingeschrieben, nicht jedem oder jeder vollumfänglich zugänglich, inwändig zu sein. Wenn man ganz dick auftragen möchte, könnte man fast sagen, dass sich hinter den Weihrauchschwaden von früher eine neue Welt auftat, eine andere metaphysische Realität, die Sehnsuchtsort war und nichts mit den kalten Klostermauern und allem, was dahinter lag, gemein hatte. Dass sich in der alten Gauburg, auf der das Kloster gegründet wurde, gerade ein Benediktinerorden niederließ – was zu dieser Zeit im Kreis Naumburg immer häufiger passierte – verstärkt den Eindruck der Entrücktheit. Das Selbstverständnis der Benediktiner zu dieser Zeit sah es nämlich vor, einen besonderen Platz unter Gottes Schäfchen einzunehmen, was auf verschiedenen Ebenen zum Tragen kommt. Eine strenge asketische Lebensführung war Ausdruck einer Suche nach Transzendenz, in der die Glaubensgemeinschaft sich ihrer Grundbedürfnisse wie nachts der Kutte entledigte.
Auch Kunst und Politik waren Felder, innerhalb derer der Orden eine besondere Rolle einnahm, denn die künstlerischen Darstellungen verfestigten das Bild der gelehrsamen Genügsamen, die überdies über einen direkten Draht zu Gott verfügten. Machtpolitische Erwägungen veranlassten Herrschende dazu, ein Netzwerk von Benediktinerabteien über ganz Europa auszuspannen, um sich durch Missionierung regierbare Untertan*innen zu sichern. Hinzu kommt das Wissensmonopol der Klöster, die als geistige Zentren fungierten. Angesichts dieser kulturellen und politischen Betätigungsfelder, die nichts mit der Lebensrealität des Durchschnittsmenschen zu tun hatte, braucht es kein Wunder, um die schweigsamen Klosterbrüder in ihren dunklen Kutten in ein rätselhaftes Licht zu tauchen. Genau diese Besonderheit führte dazu, dass Mönche zu grauen Eminenzen wurden, die weltliche Herrscher berieten und so Einfluss auf die politische Sphäre nahmen.
Auch der Gründungsmythos des Klosters fußt auf Gruppenzugehörigkeit und Polarität. Wie viele andere Abteien in der Region ist es als Glaubensbastion Richtung Osten entstanden, denn Glaube war im Mittelalter ein profunder Weg der territorialen Expansion und Kitt für die Bevölkerung. Auch profane Bauten, wie die Burg, die an der Stelle der heutigen Zeitzer Moritzburg errichtet wurde, dienten diesem Zweck. In diesem Fall war es Heinrich der I., der so die angrenzenden slawischen Gebiete unter Kontrolle halten wollte und später in Heinrich Himmler einen glühenden Verehrer fand. Sind Namen wirklich Schall und Rauch? Der Teufel hat zumindest einem anderen berühmten, deutschen Heinrich eingeflüstert:
„Die Kirche hat einen guten Magen, / Hat ganze Länder aufgefressen, / Und doch nie sich übergessen; / Die Kirch allein, meine lieben Frauen, / Kann unrechtes Gut verdauen.“ (Goethe: Faust I, Vers 2835.)
Das Benediktinerkloster wurde 1122 also nicht zufällig auf slawischem Gebiet errichtet. Ein Gründungsmythos, der nach damaligen Maßstäben ziemlich legit war, ließ diesen Vorstoß zu einer vermeintlichen Notwendigkeit werden. Die Jungfrau Maria höchstpersönlich soll einem slawischen Heiden in einem nächtlichen Traum erschienen sein, um ihm mitzuteilen, dass er sich zum katholischen Glauben bekennen und den Bischof Dietrich I. dazu anhalten solle, ein Kloster auf dem Bergsporn zu gründen. Das Kloster war also klar als Ort zur Missionierung erdacht. Dem Bischof, also dem Stifter des Klosters, brachte es aber kein Glück, denn schon ein Jahr später wurde es zum Schauort eines grässlichen Verbrechens. Ein zum Christentum konvertierter Mönchsbruder erstach diesen Bischof auf dem Hauptaltar des Klosters, um sich für eine ihm auferlegte Strafe zu rächen. Die dahinter liegenden Gefühlswallungen des Klosterbruders, die sich als blutroter Strom auf dem Hauptaltar Bahn brachen, lassen sich nur erahnen Doch sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass die Missionierung der ‚Heiden' alles andere als gewaltfrei vonstatten ging und Demütigungen und Marginalisierung Teil des Opus Dei waren.
Doch nicht die Praktiken, die gewisse Ordinarien der Sphäre der Menschlichkeit enthoben, erst interner Sittenverfall und die Reformation führten im 16. Jahrhundert zur Profanisierung des Klosters, das jetzt als Kulturstätte dient und nicht mehr Geistlichen, sondern Freigeistern zur Verfügung steht.
Romantische Ruine
Dieser Ort wird für mich die nächsten zweieinhalb Tage zum Ausgangspunkt meiner persönlichen Mission werden, denn ich habe mir – wie ich schnell begreife – kaum ein Bild vom vermeintlich unbekannten Osten des Landes gemacht und auch eine Auseinandersetzung mit deutsch-deutscher Geschichte nicht wirklich forciert. Zeit, ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen.
Unten im Ort angekommen, schlendere über den Marktplatz und entdecke dort eine Stele mit Gedenktafel. Diese ist dem Pfarrer Oskar Brüsewitz gewidmet, der sich am 18. August 1976 aus Protest gegen das SED-Regime, in dem Gott und die Kirche keinen Platz hatten, selbst anzündete. Der Freitod des Pfarrers wird noch heute kontrovers diskutiert. Für die einen ist er ein Märtyrer, der sich für freiheitlich-demokratische Werte zum Wohle aller opferte, für die anderen ist er schlicht ein religiöser Fanatiker. Nach der Gründung der DDR 1949 geriet die Religion jedenfalls schnell ins Abseits. Gehörten zu diesem Zeitpunkt circa 92 Prozent der Bevölkerung einer Konfession an, sollten es 1988 nur noch etwa 40 Prozent sein, was vor allem durch gezielte Repression zu erklären ist. Die materialistisch-atheistische Umerziehung der Bevölkerung im Arbeiter- und Bauernstaat tat ihr Übriges und ließ viele Menschen freiwillig oder unfreiwillig dem Glauben abschwören. Die christliche Religionsgemeinschaft wird nun selbst zu einer unterdrückten Gruppe.
In der Tradition von Klöstern als Horte des Wissens stehen Schulen, hier ist der Tagesablauf streng getaktet, Zeit und Wissen sind in kleine Häppchen aufgeteilt. Keine neue Erfindung, denn schon Max Weber stellte fest, dass man in Benediktinerklöstern die Zeit entdeckte und der Mönch als erster rational lebender Mensch zu klassifizieren sei. Ora et labora, man kennt es ja. So weit, so logisch, auch wenn man etwas irritiert darüber sein könnte, dass der Geist des protestantischen Arbeitsethos in einem katholischen Kloster beschworen wurde, in dem man als vernünftig galt, wenn man an die Allmacht eines Mannes mit weißem Rauschebart glaubte. Mythologie und Vernunft sind bekanntlich eine gefährliche Mischung.
Aber zurück zur Schule. Denn ein deutlich in die Jahre gekommener Bau, der sich Ehrfurcht gebietend an den Zeitzer Forst anlehnt, war der nächste Halt auf meiner Entdeckungsreise und entpuppte sich als ehemalige Schule, in der es für kleine Schöngeister definitiv zu gespenstisch aussah. Zumindest bei Regen und Nebel... Dieses monumentale Gebäude, dessen Fenster zersplittert sind und dessen Dachstuhl teilweise eingestürzt ist, das überall bröckelt, nachgibt und mit Flora und Fauna eigenartig harmonisiert, steht mitten in der Stadt, ist sozusagen architektonisches Herzstück und für „die Südansicht der Stadt besonders stadtbildprägend“, so die Formulierung der städtischen Denkmalbeschreibung. Aus dieser gehen auch allerhand beeindruckender architektonischer Details hervor: die Fassade ist neugotisch gegliedert, Gebäudekanten sind durch achteckige Trabanten betont, es gibt aus deutschem Band, Konsol- und Maßwerkfries gebildete Gurtgesimse und vieles mehr. Deutsche Maßarbeit also mit Anleihen an die Vergangenheit. Denn gerade das strukturgebende Element der Fassadengliederung neugotisch zu gestalten, kann im Kontext seiner Entstehungszeit, die Zeit des architektonischen Historismus, als Verweis auf die Romantik gelesen werden. Glaubt man dem für seine Arbeiten zur Form- und Inhaltsdeutung von Kunst und Architektur berühmt gewordenen Kunsthistoriker Erwin Panofsky, wird durch das ‚gothic revival’ eine romantische Sehnsucht nach einer unwiederbringlichen Vergangenheit deutlich. Das Gebäude vollführt also eine doppelte Bewegung in die Vergangenheit, denn die Epoche der Romantik erklärte das Mittelalter zum Ideal und bot Minnesängern und -gängern sowie Schauermärchen, darunter auch das Schreckgespenst Nationalismus, eine Bühne. Inzwischen ist die Schule nicht nur durch ihre Formensprache, sondern selbst als zerfallene Ruine zum romantischen Motiv geworden.
Neuere Medien gehen da mit, denn die Paul-Wegmann-Schule wurde schon ins Social-Media-Fotoalbum Pinterest als ‚romantic ruin‘ gepinnt. An Vergangenheit jedenfalls mangelt es dem 1866 bis 1868 erbauten Gebäude mitnichten. Ab 1926 wurde es als Kindererholungsheim genutzt, dann als Schule. Das neue Jahrtausend schien keinen Platz mehr für das monumentale Gebäude zu haben, das immer mehr zur Reminiszenz an Vergangenheiten wurde und so kam nach der Schulschließung der Zerfall. Zu groß geworden für eine schrumpfende Gemeinde, aber ebenso in die Jahre gekommen.
Aufmerksamkeit bekam der Bau zuletzt überregional von Investorenseite, denn wie so viel Leerstand in den neuen Bundesländern kam auch dieses Objekt in den Nullerjahren, verbunden mit der Hoffnung auf Modernisierung und Sanierung, zu einem Spottpreis unter den Hammer. Nicht nur Aufmerksamkeit, gar das Rampenlicht wurde dem Bau als Kulisse für die deutsche Produktion ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ zuteil. Der dreiteilige Fernsehfilm spielt während des Zweiten Weltkriegs und nähert sich dem Thema anhand der Darstellung fiktiver Einzelschicksale.
Den 1889 geborenen Namensgeber der Schule – Paul Wegmann – , an den ein verwitterter Gedenkstein vor der Schule erinnern soll, verschlug es vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, 1930, nach Zeitz, wo er als Kreisjugendpfleger arbeitete. Zeit seines Lebens engagierte er sich politisch mit dem Credo der gesellschaftlichen Verantwortung jedes Einzelnen und jeder Einzelner, war bekennender Pazifist, bis zuletzt kompromissloser Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und ein ruheloser Fürsprecher für die Menschlichkeit. Dabei machte der Horror der Konzentrationslager keinen Halt vor ihm und er wurde 1938 ins KZ Sachsenhausen deportiert. Dort hielt man ihn zwei Jahre fest. 1944 wurde er wieder interniert und 1945 schließlich nach Bergen-Belsen gebracht. Dort erlag er nach langem Leidensweg dem Flecktyphus.
Es scheinen eher Jahrhunderte als gerade einmal ein Jahrzehnt vergangen zu sein, seit das, durch diverse Brände gebeutelte und inzwischen von allen Seiten besprayte Schulhaus fernsehtauglich gewesen ist. Große Fragezeichen an den Wänden leuchten in Rot durch die zerborstenen Fenster und erzeugen schaurige Präsenz, die Fragen aufwirft. Welches Gespenst geht um in der Paul-Wegmann-Schule? Wie kann ein solches Gebäude, das nach der Befreiung vom Nationalsozialismus mit dem Namen Paul-Wegmann-Schule geehrt und damit Echokammer für unendlichen politischen Mut wurde, in diesem Zustand sein? Ein Lost Place unter vielen, die sich die Treuhand unter den Nagel gerissen und wieder fallen gelassen hat, die das Stadtbild noch heute prägen und eigene Geschichten erzählen können, die weltberühmte Manufakturen für Kinderwägen oder Musikinstrumente und Orte für menschliches Zusammenkommen waren? Und wo sind sie jetzt, die Menschen?
Z wie Zeitz: Von Zetti und Zekiwa
Am nächsten Abend mache ich wieder einen abendlichen Spaziergang in die Stadt. Es gibt so viel zu sehen, Dinge, die ich in meinem Alltag in Hamburg gar nicht oder zumindest nicht in einer solch irritierenden Selbstverständlichkeit nebeneinander sehe. In Zeitz werden prächtige Jugendstilvillen von Trümmern flankiert, Autos mit Wehrmachtssymbolik stehen in Wohngebieten, ein paar Straßen weiter Werbung für Open Spaces und Kulturveranstaltungen. Aber Menschen sehe ich kaum, bis es auf einmal laut wird. Am Busbahnhof tummeln sich Jugendliche und solche, die es bleiben wollen. Ich komme mit zwei Ur-Zeitzern ins Gespräch, Nachwendekinder. Wir plaudern eine wenig und schnell wird klar, dass Zeitz für die meisten von ihnen mehr als eine Stadt ist, die ihre besten Jahre hinter sich hat. Diese Stadt ist eng mit ihrer eigenen Identität verwoben, ein Ort, an dem alles geht für „Rämo“ und „Scratchy“ – wie sich die beiden nennen –, die vielleicht die Begrenzung ihrer Spielwiese Zeitz erahnen, die aber keine Rolle mehr spielt. Mit ihren Pseudonymen schlüpfen sie wohl jeden Abend, oder zumindest am Wochenende in eine andere Haut, eifern Idolen nach, die keinen Bezug zu ihrer Stadt haben. Toni Montana und Pablo Escobar, diese beiden Namen fallen immer wieder und scheinen mir angesichts des Ortes, an dem wir uns gerade befinden, so weit weg wie der Mond, der den grauen Beton des Busbahnhofs in weiches Licht taucht. „Wir haben uns hier was geschaffen“ sagt Rämo selbstbewusst. „Hier ist Familie, Hood, die würde alles für mich tun.“
Vor allem Rämo schwärmt von einem Lebensstil, der Kleinkriminalität romantisiert und auf Wertemonolithen, wie Loyalität und Ehre fußt und hofft dadurch dem scheinbar alternativlosen Gegenentwurf einer kleinbürgerlichen Existenz zu entkommen, die er so beschreibt, als würde man zum Leben als Leichnam verdammt, sich beständig sein eigenes Grab schaufeln.
Das Drogendealen ist in seinen Augen Ausweg aus der Ödnis, aber auch ein Möglichkeitsraum, um jemand zu werden. Den harten Kerl allerdings nimmt man jemandem nicht gänzlich ab, der beim lokalcolorierten Thema ‚Zetti-Knusperflocken‘ leuchtende Augen bekommt und den Duft seiner Kindheit in der Nase hat. Trotzdem, ‚Hartz 4 colors‘ ist der plakative Name des Sprayerkollektivs, dem er angehört, die antibürgerliche Haltung sitzt wie ein Maßanzug. Die Umwertung aller Werte wird auf jeden ollen Stein getagged. Kein Gott und auch kein Staat können daran etwas ändern. Opioide fürs Volk.
Die Paul-Wegmann-Schule ist für beide, nicht nur was das Sprayen angeht, ein besonderer Ort. Scratchy hat sie selbst noch besucht und ist nach eigenen Aussagen Zeuge eines Selbstmordes geworden, derer es drei in kürzester Zeit gegeben haben soll, als sich ein junges Mädchen aus Liebeskummer vom Kaminturm des dreistöckigen Gebäudes in die Tiefe stürzte. Rämo erzählt von einer Spray-Session in der Schule, die ihn und seine Jungs schaudernd und paranoid zurückließ. Was an diesem Tag anders war, können sie nicht erklären, aber es war einfach „unheimlich“.
Und so lerne ich an diesem Abend einen Teil der Menschen kennen, die der Schule neues Leben einhauchen und ihr Antlitz verändern. Also doch keine Gespenster dort, nur Menschen, die von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht werden. Und noch etwas lerne ich bei meiner letzten Station. Die Fragezeichen sind eine Form der Kommunikation unter Sprayern, sollen sagen: Hier geht noch was!
Geschichte wiederholt sich
Wieder zurück am Kloster fühle ich mich vermutlich wie jemand, der einen neurasthenischen Schock erlebt hat. All diese Eindrücke, das Kloster und seine blutige Geschichte, die Selbstmorde und nicht zuletzt die deutsche Geschichte lassen mich erschaudern und tauchen den Ort in ein unheimliches Licht. Sigmund Freud näherte sich dem Unheimlichen durch Sprache an, legte es auf den Seziertisch der Wortklauberei und fand so für sich heraus, dass das Spannungsfeld aus heimelig und heimlich für das Unbehagen sorgen musste. Etwas, das im Geheimen bleibt und nicht vertraut ist, ist unheimlich. Übersetzt in zeitgenössische Psychoanalyse und in die Gegenwart heißt das wohl, dass wir uns vor intellektuellen Unsicherheiten fürchten. Nur das Abtragen einzelner im Verborgen liegender Schichten von Unwissenheit, das Konservieren und das Beleuchten, lassen uns nicht zu verängstigten Abergläubischen werden, die die Straßenseite wechseln, wenn sie eine schwarze Katze sehen. Und so ist es auch jedem und jeder selbst überlassen, welchen Zugang er oder sie zu bedeutungsschweren und aufgeladenen Orten wählt, die vielleicht auf den ersten Blick wenig einladend wirken. Manchmal dauert es Jahrhunderte, bis ein Ort wiederbelebt, renoviert oder erneuert wird, wie im Falle des Klosters Posa, das gleich zweimal ‚lost place‘ war, erst als zerfallene Gauburg, dann als verlassene Klosterruine und nun Wirkstätte für diejenigen geworden ist, die mutig genug waren, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben und einen neuen Ort zu schaffen.
Die Schule, die manchen als Herzstück der Stadt gilt, mag wie eine offene Wunde wirken und bezieht daraus vielleicht ihre größte Stärke, denn das aus der Zeit gefallene Gebäude Paul-Wegmann Schule, ist Mahnmal und Abbild transformativer Gestaltungsprozesse zugleich, erschafft sich im Zerfall ständig neu und wird im Dialog mit ihren Mitmenschen zum ästhetischen Objekt. Langsam wagt man sich dort wieder hinein, hat die Stadt selbst jüngst große Pläne mit dem Gebäude verkündet und möchte dort „hochwertigen Wohnraum“ errichten. Die „Außenmauern sollen dabei erhalten bleiben.“