Mit schambehaftetem Stolz
Jasmin Nimmrich
Volontärin, Quadriga Media Berlin

Mein Großvater (*1940, †2022) wusste viel über stolze Männer. Über Kaiser, Könige und Zaren, Männer des Kampffeldes und des Staates. Er selbst war ein Mann des Genusses, für gute Bücher, guten Wein und gutes Essen. Den Stolz, mit dem er über die Taten anderer Männer sprach, ließ er sich selbst kaum zugutekommen. Denn das Leben meines Großvaters hat eine Wende genommen, während der sich sein Lebenstraum als Lebenslüge entpuppt hat.

 

Wechsel die Seiten

Feinde, die sich zuvor gegenübergestanden haben, in Fällen sogar aufeinander geschossen hätten, vereinigen sich selten. Noch seltener wechselt eine gesamte Armee die Seite. Doch genau dies geschah am 3. Oktober 1990. Der Tag, an dem die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) zu einem Staat wurden. Damit wurden also auch die Streitkräfte der Nationale Volksarmee (NVA), der Armee der DDR, Teil der militärischen Vertretung der Bundesrepublik: der Bundewehr.

Mein Vater (*1969), zu dieser Zeit Offiziersschüler in der NVA, beschreibt die Wochen vor dem 3. Oktober als „beunruhigend und beängstigend“. War das Tragen der Uniform als NVA- Angehöriger zu jeder Zeit Pflicht, wurde mit zunehmender Anspannung innerhalb des Staatsapparates dazu geraten, die Uniform nicht mehr in der Öffentlichkeit zu tragen. Die Soldaten durften ihre Kaserne nicht mehr verlassen, nicht mit der Welt außerhalb der Garnison telefonieren, und die Alarmübungen mit scharfer Munition im Morgengrauen häuften sich. Man bereitete sich gezielt auf das Ende vor.

Und das absehbare Ende der NVA sah folgendermaßen aus: Die „Zwei-plus-vier-
Gespräche“ im September 1990 legten eine Obergrenze von 370.000 Soldaten für Gesamtdeutschland fest und schrieben für das Gebiet des Westens 320.000 und für Ostdeutschland 50.000 Soldaten vor. Die ehemalige Nationale Volksarmee musste daher um knapp 130.000 Mann reduziert werden. Lediglich 6.000 Offiziere, 11.200 Unteroffiziere und 800 Mannschaften würden auf Probezeit innerhalb der Bundeswehr weiterbeschäftigt werden.

Der klare Plan, den mein Vater für sein Leben hatte, gehörte mit Anfang 20 also der Vergangenheit an. Statt eines absolvierten Studiums und einer Militärlaufbahn stand er nun vor dem Nichts und rückte, gemeinsam mit ehemaligen Kameraden, in Bewerbungsverfahren westdeutscher Unternehmen, die in den Kasernen nach Arbeitskräften suchten, in Bewerbungsverfahren vor und zurück.

Schütze, was Du schützen sollst

Die Frage, was sein eigener Vater denn genau bei der NVA gemacht hat, kann meiner nicht beantworten. Er war für das Ministerium für nationale Verteidigung tätig, war Kompaniechef und mal leitender Offizier für Luftraumüberwachung. Fest steht auch, dass er mit der

Beschaffung neuer Technik betraut und innerhalb des Ostblockes viel auf Reisen war. Ob im Flugzeug oder am familiären Esstisch immer auch mit Waffe.

Mit 50, dem Zeitpunkt des Schnittes in seiner Karriere, wurde er dann mit der Rückführung eines Teils der sowjetischen Streitkräfte und Technik betraut – der Nichtigmachung seines Berufserfolges, der Aufhebung eines Teiles seines Stolzes. Vom zerschlagenen Ministerium wechselte zum Wachschutz, unteranderem für die Internationale Luft- und Raumfahrtausstellung und die Internationale Funkausstellung in Berlin.

Als Militärangehöriger, und damit auch Teil des Staates, muss meinem Großvater auch dessen Zerfall bewusst geworden sein. Ihn trafen das neue Gesellschaftssystem, der Kapitalismus und Individualismus nicht unvorbereitet. Doch um dort anzukommen, einen Neustart zu wagen und neutral zurückzublicken, war er innerhalb des vergangenen Systems schlichtweg zu erfolgreich.

Mach Stolz zu Scham

Die ersten Nachwendejahre waren für meinen Vater eine Zeit der Neuorientierung und der Stille. Angesichts der Ost-Diskriminierung ist er mit seiner Biografie nicht hausieren gegangen. War seine Ausbildung innerhalb der NVA schon während DDR-Zeiten ein Grund für kritische Äußerungen innerhalb seines Freundeskreises, nahm nach der Wende und mit Offenbarung seiner Vergangenheit die Intensität der Werturteile zu. Statt auf Neugier und Versuche der Aufarbeitung begegneten ihm Fragen wie: „Hättest du auch auf mich geschossen, wenn ich das Land versucht hätte zu verlassen?“, auf die es keine ehrliche Antwort mehr gab.

Den Schnitt im Lebenslauf beschreibt er heute als Lebensleistung. Er hat sich im neuen System zurechtgefunden, die Bundeswehr verlassen, eine Familie gegründet. Sätze wie „Damals war nicht alles schlecht“ habe ich ihn noch nie sagen hören, da dies kein Fakt ist, den er betonen müsste. In dem Staat, den mein Großvater und mein Vater beschützt haben, haben sie die Möglichkeiten und Chancen genutzt, die ihnen geboten wurden, und die sie ermächtigt waren zu nutzen.

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