Die Jungs und Mädels vom Klosterhügel
Marius Penzel
Freier Journalist, Angestellter seiner und fremder Überlegungen

In Zeitz ist Verfall seit vielen Jahrzehnten die Regel. Doch auf dem Klosterhügel über der Stadt tut sich etwas: Aus der Großstadt kamen ehemalige Zeitzer und weitere Unterstützer:innen, gründeten einen Verein und betreiben Kunst, Archäologie, Kultur und Workshops. Jetzt tut sich auch in der Stadt etwas. Während die einen munkeln, freuen sich andere über den lang ersehnten Aufwind.

Sonne schiebt sich schwer durch den Weidenbaum auf alte Steine, die die Maueranlage auf dem Hügel über der Stadt Zeitz bilden. Eine Familie streift an jungen Menschen vorbei, die zwischen Weiden und Steinen ihren Laptop bearbeiten. Eine Frau mit Kinderwagen erwähnt das Wort „Co-Working-Space“. Wie gegen einen Widerstand drückt sie die Silben durch ihren Kehlkopf, als stecke hinter dem Begriff eine komplexe Idee – und nicht etwas Konkretes, an dem sich an einem Sonntag vorbeispazieren lässt. Dieses Gelände nennen alle Kloster, doch das Kloster ist vielmehr Konglomerat aus Scheunen, Gärten, Ausgrabungen, Weinreben, Zelten und Kaffee. 

2013 kamen einige Zeitzer wieder, die die Stadt zum Studieren verlassen hatten, und brachten Freunde aus anderen Gegenden des Landes mit. Sie gründeten den Verein „Kultur- und Bildungsstätte Kloster Posa, um Workshops, Kunst und Musik auf dem Gelände Raum zu geben. Sie widmen sich dem Weinanbau und graben nach alten Siedlungen. Der Hügel ist schon seit unzähligen Generationen bewohnt. Das Land Sachsen-Anhalt fördert die historischen Ausgrabungen. 

Hinter dem Klostergelände beginnt bald die Zeitzer Plattenbausiedlung, und noch etwas weiter die Altstadt Zeitz: Die sagenumwobene Altstadt, in der seit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts große Fabriken entstanden und mit ihnen prunkvolle Villen. 

Die Stadt, in der die DDR einerseits die berühmte Knusperflocke hinterließ und andererseits die Altstadt verfallen ließ. Die Stadt, in der sich ein evangelischer Pfarrer 1976 zum Protest gegen die Unterdrückung der Religion durch den Staat mit einem Fanal selbst verbrannte. Die Stadt, in der nach dem Mauerfall die meisten Fabrikanlagen nutzlos wurden und die rund ein Drittel der Bewohner nach 1989 verließen. Die Stadt, die seither vermodert und versucht, den Ruf einer Geisterstadt abzuschütteln. 

Wer aus Leipzig kommend rund 35 Kilometer Richtung Süden reist, stößt mit dem Klosterhügel auf die erste Erhebung seiner Art. Auf dem Berg nehmen die Zeitzer nun den „Überschwappeffekt“ aus der Universitätsstadt wahr. Denn aus der wachsenden Großstadt mit den steigenden Mieten sollen sich ein paar der Städter auch in Zeitz ansiedeln. Der Bürgermeister sehnt diesen Effekt seit Jahren herbei. 

Klar ist: Mit den Leipzigern breitet sich auch ein Teil der urbanen Welt über den Klosterhügel nach Zeitz aus: Kunst, Hafermilch und Co-Working-Spaces. Sind die Zeitzer bereit?

In der Altstadt öffnen sich hinter einem engen Kneipenraum mit dunklen Holzvertäfelungen die Türen zu einem Biergarten. Hier im Irish Pub versammelt sich Zeitz am abendlichen Wochenende. Es ist der einzige Laden, der auch am Wochenende länger offen bleibt. 

Zwei Gäste, ein Pärchen mittleren Alters, stellen sich als „Kenner“ der Stadt vor. Sie berichten:  Ja, die meisten jungen Leute ziehen weg. Betriebe fehlen und mit ihnen die Möglichkeit, sich ausbilden zu lassen. Aber ein paar Neue siedeln sich immerhin an: Neuerdings gründen vereinzelt Zugezogene Wohngemeinschaften und pendeln nach Leipzig. Selbst in der vergammelnden Rahne-Straße, die einige Zeitzer lieber einfach „wegschieben“ würden, wohnen jetzt Neuankömmlinge aus der Stadt.

Was auf dem Klosterhügel geschieht? Ob der Frage schmunzelt das trinkende Pärchen hinter ihren Guinness-Gläsern. Erst gestern sei über das Kloster wieder in der Zeitung berichtet worden, antworten sie. Anwohner hätten sich – mal wieder - über Lärm beschwert. 

Sie erklären: Zeitzer beschweren sich naturgemäß immer. Zeitzer beschweren sich, dass alle Jüngeren wegziehen und dann wieder über die Zugezogenen. Zeitzer beschweren sich, dass es an Kulturangeboten für die Jüngeren mangelt und dann wieder über die Kultur, die die Jüngeren mitbringen. Veränderung – auch in diesem Punkt sind sich die beiden sicher – kann es für Zeitz nur von außen geben. Sie finden gut, was der Verein am Kloster Posa seit der Gründung geschaffen hat.

Von den Ausgrabungen auf dem Berg zeigen sich viele Zeitzer begeistert, auch der Herr im Pub. Zeitz habe in dieser Hinsicht viel zu bieten. Im Spätmittelalter sei ein komplexes System aus Katakomben unter der Altstadt entstanden. Die Vorfahren der Zeitzer nutzten es, um Bier zu lagern. Viele der Gänge sind verschüttet und unentdeckt, erklärt der Herr. Er vermutet sogar eine unentdeckte Verbindung der Gewölbe unter der Altstadt bis zum Kloster Posa. Man müsse nur graben. „Vielleicht unter deinem Haus?, fragt der Herr seine Begleitung, die lachend abwinkt.

Philipp Baumgarten gehört zu den Gründungsmitgliedern des Vereins „Kultur- und Bildungsstätte Kloster Posa. Er bringt auch die Ausgrabungen auf dem Klosterhügel voran. Vom Hügel aus ordnet Baumgarten die vermutete Tunnel-Verbindung ein: Unterirdische Fluchtwege müsste es in den historischen Anlagen des Klosters gegeben haben. Und auch die alten Gewölbe unter Zeitz hätten noch viel Potential für Entdeckungen, da vieles nicht restauriert wurde und verfiel, ähnlich wie die Stadt über dem Erdboden. Doch eine Verbindung zwischen Kloster und Stadt hält er für unwahrscheinlich. Dafür hätte sich jemand unter dem Bach hindurch buddeln und den Tunnel wasserdicht versiegeln müssen.

Baumgarten sagt auch: Ja, manche Anwohner beschweren sich über Lärm, wenn das Kloster etwa Hochzeiten bewirtet. Doch nicht alle Zeitzer sind skeptisch gegenüber den „Hippies auf dem Hügel. 

Heute, zum Tag der offenen Tür am Kloster Posa, spült das Spätsommerwetter einige Zeitzer hinauf, die sich sonst nur selten hier oben versammeln. Einer der Besucher ist ein älterer Herr mit himmelblauem Hemd. „Ich wohne gleich hier unterm Berg, sagt er, während er dicke Wolken aus seiner E-Zigarette pustet. Schon als Kind habe er hier gespielt. „Damals war hier aber alles wilder, ergänzt er. In Zeitz ist alles ein bisschen wilder. 

Ob die Heimatstadt schön sei? Der Herr reagiert verhalten. „Alles verfällt immer.“ Und wie er es findet, dass nun hier auf dem Hügel eine Entwicklung stattfindet? „Es wird langsam wieder, lautet die Antwort. 

Die Archäologen am Kloster Posa werden zwar vermutlich keine direkte Tunnel-Verbindung zwischen sich und der Stadt ausheben können. Doch nach fast zehn Jahren nach Gründung des Vereins scheinen die Jungs und Mädels vom Klosterhügel etwas Wertvolleres geschaffen zu haben: Eine immer enger werdende Verbindung zwischen den alten und neuen Zeitzer:innen.

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