Der Wendeschatz von Zeitz
Luis Wolf
Studierender, Universität Leipzig

Zeitz ist eine Stadt im südlichen Sachsen-Anhalt. Zu DDR-Zeiten sicherte hier eine Kunsthistorikerin zensierte Kunst: Die „Prometheus-Mappe, welche später um die Welt gehen sollte. Der Germanist Roland Rittig initiierte das Kunstprojekt und lebt noch heute in Zeitz. Die Geschichte eines Werkes und einer Stadt, die die Wende brauchten, um erzählt zu werden. 

„Mit dem Wegbruch der Betriebe gingen die Menschen.“ Das hört man immer wieder, wenn es mit Blick auf die Wiedervereinigung um strukturschwache Regionen in Mitteldeutschland geht. Auch Roland Rittig sagt das. Wir sitzen auf dem Hof des Klosters Posa, einem Kreativort in Zeitz. Man möchte fast sagen: Zeitz ist typisch für eine kleinere Stadt in Ostdeutschland. Zu DDR-Zeiten gab es viele Betriebe, über 40.000 Menschen lebten hier. Nach der Wende wurden viele Produktionsstätten – wie beispielsweise die bekannte Kinderwagenfabrik - abgewickelt. Heute befindet sich in Zeitz das Deutsche Kinderwagenmuseum im Museum Schloss Moritzburg. Dem Ort, an dem die einzige vollständige „Prometheus-Mappe“, eine Kunstmappe mit Kompositionen, Grafiken und Texten verschiedener Künstler:innen, bis heute bewahrt ist. „Da kann man schon glücklich sein, sagt Rittig. 

Roland Rittig, Jahrgang 1944, ist Literaturwissenschaftler und hat lange an der Martin-Luther-Universität in Halle gearbeitet. Vor knapp 50 Jahren erhielt er das Angebot, ein großes Grundstück, eine alte Mühle in der Nähe von Zeitz, zu beziehen. Zuvor als Jugendlager genutzt, wollte die Besitzerin das Gut im Elstertal anders vermieten – diesen Ort ein wenig beruhigen. Rittig bekam davon mit, setzte sich mit ihr in Kontakt und äußerte Interesse. Sie stimmte zu, einzige Bedingung: Alle Wohnräume müssen genutzt werden. Also machte sich Rittig auf die Suche und stieß besonders bei Bekannten aus Halle auf Interesse. Unter den Bewohner:innen waren der Maler und Grafiker Uwe Pfeifer, der Maler Gerhard Schwarz, der Glaskünstler Rüdiger Reinel sowie der Schriftsteller Dieter Mucke. Eine Gruppe an Freund:innen und Kolleg:innen traf sich in Zeitz. Immer wieder stellten diese Künstler:innen auch in kleinen, örtlichen Galerien oder dem Museum im Schloss Moritzburg aus. Der Zeitzer Kulturbetrieb profitierte von dieser Wohngemeinschaft. 

Anfang der 1980er Jahre wurde Roland Rittig vom Kulturbund der DDR mit dem Erstellen eines Kunstprojekts beauftragt. Dafür sollte er seine Kontakte zu bildenden Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Komponist:innen nutzen, um möglichst viele Beiträge – ob künstlerisch, musikalisch oder literarisch – in einer Mappe zusammenzustellen. Die Suche war erfolgreich: Viele Kreative nahmen an dem Projekt teil und präsentierten ihre Assoziationen zu „Prometheus“, einer Figur der griechischen Literatur. Er war ein Titan, dessen Schützlinge die Menschen sind. Nach einem Streit zwischen Prometheus und Zeus verwehrt letzterer den Menschen das Feuer. Prometheus reagiert, stiehlt das Feuer von Zeus und übergibt es den Menschen, wofür Zeus ihn zur Strafe an einen Felsen schmiedet. Der junge Goethe bezog den antiken Mythos mit einem Gedicht auf seine Zeit, das Feuer in den Menschen steckte dabei nicht zuletzt in der lyrischen Epoche des Sturm und Drang. Diese Literaturepoche war durch einen kulturellen Umschwung, angeschoben besonders von jungen Literat:innen, geprägt. Mit der Zeit distanzierte sich Goethe von dem Feuer seiner Jugend, betrachtete auch die Risiken des Umgangs mit dem Feuer. Die von Rittig knapp 200 Jahre nach Goethes „Prometheus“ erstellte, gleichnamige Mappe sollte eine neue Dimension des Feuers betrachten. 1982, zu einer Phase der Hochrüstung im Kalten Krieg, wurden neue „Feuerkräfte“ in den Fokus gerückt – unter anderem die durch Kernspaltung freigesetzte Energie und die Gefahren dieser neuen Technologien. „Das Feuer des Prometheus hat eine völlig andere Dimension erhalten, es wurde zu einem zerstörerischen Feuer, sagt Rittig.

Der Literaturwissenschaftler sitzt vor einer modernisierten Scheune auf dem Klosterhof und erzählt mit Stolz von der Entstehung der Mappe. „Das letzte große Auftragswerk des Kulturbundes der DDR“ sei es gewesen – und ja, er konnte einige Künstler gewinnen, die dem Auftraggeber mit ihren Werken auf die Füße traten. Kurz nach der Präsentation der Mappe in Dresden wurde das Kunstprojekt magaziniert, der Zensur DDR-Staatsmacht unterworfen. Geplant war das anders, erzählt Rittig: „Das Werk war gar nicht intentioniert, so kritisch zu sein. Der Kulturbund der DDR hat es ja eigentlich freigegeben. Klar, eine gewisse Kritik an den Zuständen der Zeit war enthalten. Die Hoffnung, dass diese Kritik aber von allen akzeptiert würde, wurde enttäuscht. Einige Exemplare der Mappe wurden umgehend eingezogen, andere gingen verloren. Eine Kuratorin des Museums in der Moritzburg Zeitz kam an ein Künstler-Exemplar, kaufte es und verstaute es in ihrem Museum. „Deswegen ist die einzige noch vollständig erhaltene Originalmappe heute in Zeitz“ erzählt Rittig.

Am 9. November 1989, einem Tag deutscher Geschichte, der so viel veränderte, war Rittig in Ost-Berlin. Ein Freund aus der BRD besuchte ihn. Um dem Gast aus Bayern etwas zu bieten, wählte Rittig zur Abendunterhaltung einen Besuch in der Komischen Oper. Bereits nach der Pause war ein Großteil des Publikums verschwunden, die historische Nachricht war langsam durchgedrungen. „Mein erster Eindruck von Westberlin waren Straßen voller leerer Bierdosen und Schlangen von Menschen an Bankfilialen, sagt Rittig. Die Wende war gekommen, auch für „Prometheus. 

Die archivierte Mappe wurde hervorgeholt. Von Zeitz ging sie dann auf Reise in die Welt. 1993 gab es die erste Ausstellung des Exemplars in Dortmund, es folgten Schauen in Ankara, Prag, Sankt Petersburg und Tbilisi. 1995 wurde die Mappe als Buch verlegt. Rittig ist stolz auf das, was er geschaffen hat. Bei einem Besuch in seinem Haus verschenkt er das verlegte Buch „Prometheus 1982 – Unbeliebte Kunst aus der DDR. 

In Zeitz wurde ein DDR-Werk erhalten, welches es ohne das Engagement einer Mitarbeiterin im Museum Schloss Moritzburg vielleicht heute nicht mehr gäbe. Trotz der schrumpfenden Bevölkerungszahl und dem Niedergang der Industrie nach der Wende konnte sich das Museum bis heute halten. Die Bewohner:innen der ehemaligen Mühle, die Roland Rittig vor der Wende zusammenholte, sind im Ort weiterhin präsent – zuletzt Gerhard Schwarz im Jahr 2016 mit einer Ausstellung im Schloss Moritzburg anlässlich seines 75. Geburtstags.

Während „Prometheus“ mehr und mehr Aufmerksamkeit erhielt, verließen viele Menschen Zeitz. Heute gibt es in der Altstadt einen Leerstand von 44 Prozent (Stand 2019). Die Frage, wie neuer Aufschwung kommen kann, steht seit Jahrzehnten im Raum. Nur durch Kreativzentren, wie dem Kloster Posa, werde das nicht klappen, so Rittig. „Man muss etwas schaffen, das Gebrauchswert hat. Man muss Arbeitsplätze schaffen.“ So wie zu DDR-Zeiten, als die Industrie in der Region stark verankert war. Eine weitere Hoffnung, die man in der Stadt immer wieder hört: Bald soll die S-Bahn von Zeitz nach Leipzig fahren. Im Zuge der steigenden Mietpreise in der Großstadt glauben viele Zeitzer:innen daran, ein Ziel für Pendler:innen zu werden. Auch Rittig hofft darauf: „Dann wären wir so etwas wie ein Vorort.“

 

Foto (c): Thea Marie Klinger

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