Den Westen im Blick
Sarah Sliwa
Journalistin, Moderatorin, Studentin

Westdeutsche verstehen sich selten als Teil der postsozialistischen Transformation. Aber wie sollen die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland behoben werden, wenn sie für die Mehrheit der Deutschen scheinbar unsichtbar sind? Die Analyse eines Lösungsansatzes – und der kleine Beitrag einer Hochschuldozentin, durch den Studierende an einer westdeutschen Hochschule mit dem Thema konfrontiert werden. 

„Ich bin Wessi – und ich bin stolz drauf!“ – eine Aussage, die vermutlich erstmal ziemlich ungewöhnlich klingt. Seltsam wirkt. Vielleicht sogar für Stirnrunzeln sorgt. Und wahrscheinlich selten bis nie fällt: Weil Westdeutschsein in der Regel kaum thematisiert wird. Warum auch? – werden sich womöglich diejenigen fragen, die zu den 67 Millionen Wessis in Deutschland gehören. Deutsch ist ja schließlich deutsch. Oder? Nicht ganz. Fragt man die 12,5 Millionen Ossis, ob sie sich mit Ostdeutschland verbunden fühlen, antwortet eine große Mehrheit laut Einstellungsdaten aus dem Jahr 2020 ganz selbstverständlich mit „Ja“. Gerade in der jungen Nachwende-Generation flammt geradezu ein „Ossi-Pride“ auf. „Ich bin Ossi – und ich bin stolz drauf!“ wird dort als Aussage gefeiert. Man ist nicht in erster Linie deutsch. Man ist vor allem: ostdeutsch.

Zum Ossi-Sein gedrängt?

In ihrer Identitätsfindung müssen sich viele heranwachsende Ostdeutsche fast schon gezwungenermaßen mit dem „Osten“ auseinandersetzen. Zum Beispiel durch Gespräche mit den Eltern oder der sächsischen Oma am Küchentisch, bei Erzählungen vom Mauerfall oder bei Klagen über den Zustand Familienkasse – weil der Chef aus dem „Westen“ durch Gehaltskürzungen wieder mehr einsparen will. Ostdeutschsein – das ist Thema. Und wird abgespeichert als etwas, das die Familienbiografie stark prägt. Selbst diejenigen, die sich – etwa aus Ablehnung oder aufgrund persönlicher Zerwürfnisse – gegen eine Identifikation mit dem Osten entscheiden, müssen sich doch wieder bewusst gegen etwas entscheiden, bewusst gegen den Osten. Und finden sich erneut in einer Auseinandersetzung mit dem Ossi-Sein wieder – daran führt kaum ein Weg vorbei. Eine Auseinandersetzung mit dem Osten – die liegt für die meisten Wessis allein aufgrund mangelnder Berührungspunkte mit der ehemaligen DDR in der Regel fern.

„Ich habe festgestellt, dass die junge Generation oft gar nichts darüber weiß“

Gabriele Fischer bildet eine Ausnahme. Die Soziologin ist Wessi – aber direkt an der innerdeutschen Grenze aufgewachsen, in Coburg: „Ich war 18, als die Wende war und ich habe das bei uns in der Stadt sehr sehr nah erlebt“. Die Ereignisse aus ihrer Jugend und dem frühen Erwachsenenalter bleiben ihr nachhaltig in Erinnerung – und beeinflussen später ihre Lehre. An der Hochschule München, wo sie eigentlich für die Schwerpunkte Gender, Migration und Diversität berufen ist, versucht sie die postsozialistische Transformation als Dozentin trotzdem „in allen Seminaren als Thema mitreinzunehmen, weil die Umbrüche massiv waren“. In Form von Debatten oder der Erstellung eines Internetblogs beschäftigen sich die überwiegend westdeutschsozialisierten Studierenden häufig zum ersten Mal mit dem „Osten“ – und erforschen unter anderem die Ost-West-Unterschiede, die sich auch über 30 Jahre nach dem Fall der Mauer feststellen lassen. 

Praktisch unauffindbar: Westdeutsche Identität 

Wessi als Selbstbezeichnung wählen oder ein „Sich-Westdeutsch-Fühlen“ – das passiert so eigentlich nicht. Die Ergebnisse der Google-Eingabe „Verbundenheit mit Westdeutschland“ sprechen schon für sich: Einer der ersten Vorschläge ist ein Link zum Artikel „Verbundenheit mit Deutschland“. Der „Westen“ – einfach ausradiert. Westdeutschsein – das ist unsichtbar, spielt scheinbar keine Rolle, denn: Westdeutsch ist deutsch. Westdeutsch ist die Norm. Und ostdeutsch – das sind „die Anderen“. Einen Bezug zu Westdeutschland, den können Westdeutschsozialisierte meist erst über einen Umweg feststellen: Das Thematisieren der ostdeutschen „Andersheit“.

Aber was bedeutet es eigentlich, sich als ostdeutsch zu identifizieren? Es bedeutet natürlich automatisch, sich nicht als westdeutsch zu identifizieren. Sich indirekt abzugrenzen. Und sich damit einer Spaltung Ost-West mehr oder weniger bewusst zu sein. Vielleicht kommt auch das Interesse an einer Versöhnung der beiden Landesteile gerade deshalb scheinbar eher aus dem Osten, wird dort stärker thematisiert: Weil die Unterschiede sichtbarer sind.

Anpassung an das „Siegersystem“?

Diese Unterschiede zeigen sich natürlich auch in harten Fakten: Es mangelt an ostdeutschen Führungskräften. Auch wirtschaftlich und demografisch zeigt sich der „Osten“ – verglichen mit dem „Westen“ – als weniger stark. Innere Einheit? Fehlanzeige. Und doch wird schon an dieser Aufzählung deutlich: Der „Osten“ wird niemals unabhängig vom „Westen“ gemessen. An den gilt es, aufzuschließen, er stellt quasi die Referenz dar, die Normalnull der Rechnung. Diese Normalisierung des Westdeutschen setzt sich schon unmittelbar nach der Wende durch: Im Grundgesetz orientiert man sich gemäß Artikel 23 an einem „Beitritt“ und suggeriert damit, der „Osten“ solle sich möglichst nahtlos in das vorherrschende System einfügen – und daran anpassen. 

Dass dieses Narrativ „die DDR ist untergegangen und der Westen hat sich als das bessere und stabilere System herausgestellt“ auch kritisch beleuchtet wird, das möchte auch Gabriele Fischer, „weil sich auch der Westen verändert hat und weil sich durch die Transformation nicht nur den Osten verändert hat. Mir ist auch wichtig, dass Studierende verstehen, dass gerade die Geschichtsschreibung rund um diese Transformation erstmal ganz viel ausgeblendet hat und die Ostdeutsche Perspektive erstmal ganz schön wenig gehört wurde“. Der „Osten“ übersehen – der „Westen“ im Blick.

Ossiverspotter:innen

Überhaupt wurde Ostdeutschsein seither auch gerne mal auf die Schippe genommen – oder schlicht primitiv abgewertet: Angefangen bei „Ossiverspotter“ Altkanzler Schmidt, der die Klagen Ostdeutscher einst als „zum Kotzen“ abstempelte, und aufgehört beim größten – natürlich westlich dominierten – deutschen Medienhaus, dem ZDF. Dort wird anlässlich seiner Einführung Ende 2021 über den neuen Ostbeauftragten Carsten Schneider berichtet, als „einer, der sich für seine Ostgeschichte nie geschämt hat“. Heute, über 30 Jahre seit dem Fall der Mauer, mangelt es scheinbar immer noch an Bewusstsein für die Erniedrigung, mit der der „Westen“ dem „Osten“ so häufig begegnet ist – und dies bis heute tut. Laut einer Befragung der Bertelsmann Stiftung anlässlich drei Jahrzehnten Deutscher Einheit sagen 83% der Ostdeutschen über sich selbst: „Ja, wir wurden in der Zeit nach der Wiedervereinigung unfair behandelt“. Von westdeutscher Seite bestätigen das nur 50%. Und die anderen 50%? Empfinden die Bezeichnung „Jammerossi“ womöglich nach wie vor als legitim.

Von Wessis stereotypisiert

Diese Abwertungen durch Westdeutsche hat ein Forscherteam des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) untersucht. Unter dem Titel „Ostmigrantische Analogien“ wurden die Erfahrungen Ostdeutschsozialisierter mit denen von muslimischen Migrant:innen in Deutschland verglichen. Dabei konnte vor allem festgestellt werden, dass beide Gruppen in Deutschland ähnlichen sozialen und kulturellen Abwertungen ausgesetzt sind. Beide Gruppen werden von Westdeutschen als „tendenziell extremistisch, demokratieunwillig und schwer integrierbar“ wahrgenommen. Sie seien schon „lange dabei, aber immer noch nicht angekommen“ in Deutschland. Ostdeutsche und muslimische Migrant:innen – von Westdeutschen stereotypisiert. Von der westlichen Mehrheitsgesellschaft abgestempelt. Als Andersartige an den Rand gedrängt. 

Klar ist: Menschen aus dem „Westen“ sind Mitverursacher:innen der deutschen Spaltung Ost-West. Aber klar ist auch: Den meisten mangelt es an dieser Erkenntnis. Es fehlt nicht nur der Bezug zu den Sorgen und der erlebten Ungleichbehandlung Ostdeutscher. Es fehlt auch die Anerkennung jener. Wie können Missstände und Abwertungen abgebaut werden, wenn bei einem Teil derjenigen, die sie auslösen, schlicht kein Problembewusstsein existiert? Wenn bei Wessis der Blick für Versöhnung oder innere Einheit praktisch nicht vorhanden ist?

Ein Ende der Spaltung – durch Critical Westness?

Critical Westness kursiert als Antwort auf diese Fragen. Die Idee: Westdeutsche sollen durch ein Mehr an Bewusstsein für ihr Westdeutschsein auch ein Mehr an Bewusstsein für die Abwertungsmechanismen generieren, mit denen sie als Wessis den Ostdeutschen – mehr oder minder intendiert – begegnen. Alles mit dem Ziel, den Teufelskreis für Ostdeutschsozialisierte zu beenden, deren permanent von Westdeutschen zugeschriebene scheinbare „Andersartigkeit“ auf diese Weise immer weiter reproduziert wird. Dabei ist der Ansatz nicht neu. Die Idee ist abgekupfert: von „Critical Whiteness“ – einem Begriff, der im Antirassismus-Diskurs zur Sprache kommt. Weiße Menschen, denen in der Regel das Bewusstsein für ihr Weißsein fehlt, sollen verstehen: Durch genau dieses Weißsein haben sie bestimmte Privilegien inne, die der Schwarzen Bevölkerung nicht zugängig sind. Critical Whiteness soll dabei helfen, postkoloniale Strukturen aufzuarbeiten. 

„Kolonie-Ost“ – ein umstrittener Begriff

Heißt das im Umkehrschluss: Der „Osten“ ist eine Art Kolonie des „Westens“? Die kurze Antwort lautet: Nein. Aber der Vergleich provoziert. Und natürlich lassen sich leicht einige Parallelen feststellen. Da wären zum einen die West-Strukturen, die im Osten implementiert wurden – etwa die Einführung des politischen, wirtschaftlichen und juristischen Systems der BRD nach der Wende. Oder das westdeutsche Überlegenheitsmindset – fernab der Realisation, dass ein bedeutender Teil des heutigen Wohlstandes der Bundesrepublik nur dank ostdeutscher Abstriche aufgebaut werden konnte. Man nennt es auch: Wirtschaftliche Ausbeutung. Und nicht zuletzt wären da die Demütigungen gegenüber Ostdeutschsozialisierten, die – so zeigt es auch die Studie des DeZIM – einfach nicht abreißen. Wie die marginalisierte Bevölkerung ehemaliger Kolonien fühlen sich viele Ostdeutsche noch immer als Bürger:innen zweiter Klasse – glaubt man einer Erhebung der Sächsischen Zeitung von 2018.

Im Jahr des Wendejubiläums 2019 gewann der Kolonie-Begriff für den Osten derart an Prominenz, dass man ihm sogar eine eigene Bühne baute. Die Tagung unter dem Titel "Kolonie Ost? Aspekte von 'Kolonialisierung' in Ostdeutschland seit 1990" versammelte mehr als 100 Wissenschaftler:innen, die unter dem Blick der Medien fleißig diskutierten – und sich schnell geschlossen von der Bezeichnung des „Ostens“ als Kolonie distanzierten. Eine der primären Begründungen: Der Prozess der deutschen Wiedervereinigung sei eben kein Dekolonialisierungsprozess. Staatlich geförderte Inbesitznahme fremder Territorien sowie Unterwerfung, Vertreibung und Ermordung der ansässigen Bevölkerung – also Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen, für die Kolonialismus letztlich steht, treffen auf die Vorgänge rund um die Wiedervereinigung einfach nicht zu. Zum Glück.

Einheit zum Preis von Rassismus?

Soziologe Raj Kollmorgen, einer der Gäste, ist überzeugt: Ostdeutschsozialisierte werden ohne Zweifel benachteiligt. Er betont allerdings im gleichen Atemzug: Von Diskriminierung und Kolonialismus zu sprechen, das verniedliche die Auswirkungen wahrhaftiger Kolonialherrschaft. Weil auf diesem Weg die Erfahrungen derjenigen, die alltäglich unter den Folgen kolonialer Gewalt und Unterdrückung leiden, in den Hintergrund rücken. „Kolonie-Ost“ als Ausdruck geht auf Kosten der Sichtbarkeit von Rassismus. Wenn Weiße Menschen, deren Interessen gesellschaftlich ohnehin über mehr Gewicht verfügen, den Begriff für sich nutzen, geraten die Interessen von BIPOC einmal mehr in den Hintergrund. Ostdeutschland als Kolonie, das bedeutet: Alle Augen richten sich wieder zuerst auf die Weißen Ostdeutschen. Denn – und das zeigt die DeZIM-Studie eben leider auch – West- und Ostdeutsche teilen sich die Vorbehalte gegenüber muslimischen Migrant:innen. Der „Osten“ und der „Westen“ – vereint in Rassimus. Den zu befeuern, ist ein Preis, den Deutschland für eine innere Einheit nicht bezahlen darf. Wenn von einem Ende der Benachteiligung von Ossis die Rede ist, muss die junge studierende Hijabträgerin genauso mitgedacht werden, wie der Bergwerkarbeiter in Rente. 

Im Interview mit der ZEIT spricht sich auch Soziologin Sandra Matthäus gegen die Verwendung des „Kolonie-Ost“-Begriffs aus. Worauf sie trotzdem hinweist: Postkoloniales Denken könnte auch ein Anstoß sein. Mit „postkolonialem Denken“ meint sie die Kenntnis über unausgeglichene Macht- und Elitenverhältnisse. Weil diese Kenntnis dann auf das deutsche Ost-West-Verhältnis übertragen werden könnte – und so vielleicht dabei hilft, „besser zu verstehen, was um uns und mit uns passiert und warum das Reden über ‚den Osten’ so kompliziert und konflikthaft ist“. 

Von Ossis lernen

Welcher Begriff auch immer am besten dafür gewählt wird: Es bleibt die Tatsache, dass Westdeutsche die innerdeutsche Einheit ein Stück weit ausbremsen. Beziehungsweise sogar mitverursachen. Wäre es demnach nicht trotzdem sinnvoll, an der Essenz festzuhalten, für die der – zurecht umstrittene – Begriff „Critical Westness“ steht? Sprich: Wessis durch ein Mehr an Bewusstsein für ihr Wessi-Dasein auf die Auswirkungen, die jenes Dasein mit sich bringt, aufmerksam zu machen? Vielleicht. Aber auch dabei ist ein gewisses Maß an Vorsicht sicher nicht von Nachteil: Damit das Mehr an westdeutscher Identität nicht genau den Spaltpilz nährt, der Ost- und Westdeutschland immer noch so hartnäckig voneinander trennt. Damit sich die Spaltung nicht durch einen Fokus auf die Verschiedenheit von Ossis und Wessis verhärtet. Damit das Ziel nicht in den Hintergrund gerät: Ein Wandel von Wessis als Ossiverspotter:innen hin zu Wessis als Ossizuhörer:innen oder gar Von-Ossis-Lernenden.

Die Soziologin erwähnt den Begriff „Critical-Westness“ zwar kein einziges Mal – aber Von-Ossis-Lernende, das sind Gabriele Fischers Studierende ohne Frage: „Im letzten Durchgang gabs einige, die auch nochmal verstanden haben, wie bestimmte Konzepte, die es in der DDR gab und durch die Wende sehr schnell abgewickelt wurden, jetzt wieder aktuell werden, jetzt wieder auftauchen in aktuellen Diskussionen“. Dabei spricht sie exemplarisch von einer Gruppe, die sich mit dem DDR-Konzept der Polykliniken beschäftigt hat – und in der Auseinandersetzung damit schnell feststellte: „Das, was jetzt diskutiert wird, mit lokalen Gesundheitszentren, geht eigentlich so ein bisschen in diese Richtung.“ 

Gabriele Fischer erzählt von der postsozialistischen Transformation als etwas, aus dem noch viele Impulse gewonnen werden können. Wer der Dozentin zuhört, schöpft auf eine Art Hoffnung – und versteht: Dass Ostdeutschsozialisierte so häufig als „die Anderen“ wahrgenommen werden, das macht von Grund auf keinen Sinn. „Das eigentlich Wichtige ist, dass die Relevanz dieser Transformation nicht unbedingt darin steckt, zu wissen, wie es bei den anderen war – sondern dass Sie feststellen, dass es auch für Sie selbst eine Relevanz hat. Es betrifft Sie selbst auch. Auch die Menschen im Westen sind ein Teil davon.“

 

Foto: Privat

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